Zwischen den Fronten – Teil 2

Wir sitzen immer noch hier. Gleicher Tag, gleiche Situation. Am Morgen sind wir aus allen Wolken gefallen, als uns der erste Alarm aus dem Schlaf riss. Es ist Krieg zwischen Israel und der palästinensischen Hamas. Und wir sitzen in Tel Aviv im „Abraham Hostel“, aufgefordert, das Gebäude möglichst nicht zu verlassen. Doch dieser Aufruf ist kaum nötig. Niemand wagt sich nach draußen. Die Straßen sind leer. Die meisten Gäste sitzen in kleinen Grüppchen in der großen Lobby. Jeder befindet sich in einer aufgeregten Lauerstellung. Ich selbst sitze in einer Gruppe aus fünf Menschen zusammen. Viele davon habe ich erst am Morgen beim Frühstück kennengelernt und doch fühlt es sich so vertraut mit ihnen an. Ich kenne sie nicht besonders gut und doch sitzen wir dort, vereint in … ja was überhaupt? Gemeinsamer Angst? Keiner von uns will jetzt alleine sein. Wie es dazu gekommen ist, dass ausgerechnet wir zusammensitzen, kann ich mir nicht erklären. Es ist schlichtweg einfach so passiert. 

Erstaunlicherweise kommen wir alle aus Deutschland. Gefühlt die Hälfte der Reisenden, die hier logieren, sind Deutsche. Es scheint, als wolle das halbe Land dem beginnenden Herbst in der Heimat entfliehen. Die Hostelbar hat sogar ein oft wiederkehrendes Abendmotto extra dafür kreiert. Oktoberfest. Immer dann wird übertrieben laut deutsche Schlagermusik angeschaltet und die Barkeeper werfen sich in bayrische Trachten. Dass alle anderen Reisenden annehmen, dass das wohl „deutsch“ sein muss, macht mich nicht gerade glücklich. Einmal wird sogar „Layla“ gespielt und mir dreht sich alles um. 

Doch alle anderen Reisenden, die kein Deutsch sprechen, nehmen das Spektakel dankbar an. Sie wissen ja nicht, was für Lieder ihnen da präsentiert werden. An einem dieser Abende sitzt ein Inder aus Mumbai neben mir. „Geht es dir eigentlich auch so, wenn jemand im Ausland Bollywood-Musik hört und das als authentisch indische Musik deklariert?

„Absolut, mein Freund.“

Am ersten Tag des Krieges wird hingegen keine Musik gespielt. Normalerweise dudelt hier immer irgendwas aus den vielen Lautsprechern. Nun hört man nur die zögerlich-befangenen Gespräche der einzelnen Gruppierungen. Ab und zu vernehme ich das Anstoßgeräusch von Kugeln am Billardtisch wenige Meter entfernt. Manche Menschen bestellen Bier an der Bar, doch es ist darauf folgend kein fröhliches Trinken. Dazwischen drückt die Stille. 

Nach und nach erfahre ich die Namen aus meiner kleinen Gemeinschaft.

Da ist Christian, der – ebenso wie ich – vor jedem neuen Geräusch erschrickt und sich fragt, ob sein Lufthansa-Flug heute tatsächlich noch stattfindet. Er checkt halbstündlich den Life-Ticker auf seinem Handy und fachsimpelt darüber was wohl als nächstes passieren wird. Zusätzlich hat er sich eine App heruntergeladen, die jede neue Raketenbedrohung anzeigt. Neben ihm sitzt Valentin, der zusammen mit Lara über neu zu buchende Flüge nach Deutschland debattiert. Ihre aktuellen Buchungen für morgen wurden storniert. 

„Gebt mir mal europäische Städte! Egal welche! Vielleicht gibts dorthin jeweils noch Flüge. Hauptsache raus“, fordert Lara uns auf. 

Ich schaue auf Google Maps. „Wie wärs mit Ankara, Bukarest, Athen …“

„Okay, danke, reicht“, winkt Lara ab. „Vorerst.“ 

Neben mir sitzt Luise. Sie ist vor zwei Tagen erst hier angekommen, wird voraussichtlich aber für ihr Auslandsemester für sechs weitere Monate in Jerusalem verweilen. Ob das tatsächlich noch so bleiben wird?

„Ich weiß, privilegierter Satz von einer weißen Person aus dem globalen Norden, aber kann ich nicht irgendwann mal wo hin reisen und es ist keine Krise?! Letztes Mal, 2020, als ich wo hin gereist bin, wurde wenige Tage alles wegen Corona dicht gemacht“, beschwert sie sich. 

„Hm, die Krisen in letzter Zeit häufen sich“, raune ich. 

Alle halbe Stunde raffen wir uns auf und spielen Kartenspiele, um uns abzulenken. Doch immer wieder driften wir ab. Wir kommen nicht wirklich in einen Spielfluss hinein, aber keinem scheint das ernsthaft zu stören. Die Stille zwischen uns ist nicht unangenehm. Sie fühlt sich sicher an. Keiner geht. Wir sitzen für Stunden am selben Platz. Wenn zwischendurch jemand verschwindet, kommt er stets zurück. So auch Christian, der sich auf den Weg zum Flughafen macht, aber nach zwei Stunden wieder zurückkommt. 

„Ach, ihr sitzt ja immer noch hier“, sagt er trocken. Sein Flug wurde storniert. „Ich brauche jetzt erst einmal ein Bier. Vielleicht auch zwei.“ Mit einem vollen Glas einer israelischen Biersorte lässt er sich wieder in seinen Sessel fallen. Seine Art mit den Dingen klarzukommen.

Ab und zu gesellen sich andere Menschen zu uns, ich umarme Delphina aus Argentinien, weil sie darum bittet. Von ihrer guten Laune am Morgen ist wenig geblieben, auch wenn sie stets versucht gut gelaunt zu wirken und mich anlächelt, wenn ich in ihre Richtung schaue. 

„Da ist etwas was ich nicht verstehe“, sagt Christian. „Warum beschießt die Hamas überhaupt Tel Aviv, wenn sie wissen, dass wahrscheinlich nichts durchgeht. Der Iron Dome hält doch fast alles ab.“

„FAST alles“, gebe ich zu bedenken. „Hauptsache es geht irgendetwas durch. Wie funktioniert dieses Abwehrsystem überhaupt?

„Weißt du, ICH als jahrelanger Millitärexperte, kann dir das auf jeden Fall ausführlich beantworten“, meint der Wirtschaftswissenschaft-studierende Valentin sarkastisch. Wir alle lachen. Wir müssen lachen. Wirklich witzig war das was er gesagt hat nicht, aber in der Situation ist alles irgendwie ulkig. 

Tragisch-komisch. 

Humor ist der Weg raus aus der Angst. 

Und dann hören wir den Alarm. 

Wie auf Kommando stehen wir gleichzeitig auf und laufen mit allen anderen zum Treppenhaus. Ruhig und gelassen. Als ob wir das jahrelang erprobt haben. Niemand rennt, alle halten sich an die Regeln. Und doch zieht es mich nach unten. Ich unterdrücke den Impuls schneller zu werden. Wie wahrscheinlich alle anderen auch. 

Ich erreiche den Bunker, es ist die erste tiefere Etage des Hostels. Normalerweise werden die Räume hier als Kunstatelier verwendet. Heute sind wahrscheinlich so viele Leute hier unten wie noch nie. Seltsame Bilder hängen an den Wänden, doch niemand hat jetzt den Drang sich in eine tiefere Kunstanalyse zu stürzen. 

Ich setze mich auf einen Stuhl und schaue in die Runde. Mein Blick wandert zu Estefani aus Mexiko. Sie schaut ebenfalls zu mir herüber. Und dann hören wir von draußen dumpfe Schläge. Es hört sich an wie ein Gewitter. Doch das ist es nicht. Dafür sind die Einschläge zu schnell hintereinander. Was wir da hören sind Raketen. Raketen aus Gaza, die vom Iron Dome abgehalten werden, Tel Aviv zu treffen. Estefanis Blick geht tief. Erst ist da kurze Neugier, dann Realisation und schließlich Angst und Entsetzen. Dies ist kein Spiel mehr, begreifen wir beide in diesem Moment. Was ich vorher nur aus Filmen und Geschichten kenne, wird nun Realität. Fehlen nur noch die flackernden Lichter und Staub, der von der Decke rieselt.

Ich schaue weg. Estafani ebenfalls. Doch ihr Blick in mir bleibt. 

„Hast du das auch gehört?“ Fragt mich Christian. Ich sage nichts. Er weiß sowieso, dass ich durchaus diesen sehr gut vernehmbaren Geräuschpegel wahrgenommen habe. 

Erneut findet sich meine Gruppe zusammen. Wir debattieren, ob und inwieweit die Reaktion von Israel ausfallen wird. Für Lara ist das zu viel: „Leute, neues Gesprächsthema! Wir können nicht immer nur darüber reden!“

Wir schweigen und grübeln. 

„Was war euer schlimmstes Tinder- oder Bumble-Date?“, versuche ich es. Die Leute grinsen. Das sind die Geschichten, die alle hören wollen. Und tatsächlich hat hier jeder etwas beizutragen. Bis auf das Paar aus Schweden, das zwischen uns sitzt. Sie sind zusammen, seit sie 17 sind.

„Heute morgen hatte ich mehr Matches als sonst“, freut sich Luise. „Momentan haben alle irgendwie mehr Zeit.“ 

Wir lachen. Das ist fieser Bunker-Humor. Doch Humor ist der Weg raus aus der Angst.

Das israelische Sicherheitssystem fängt neue Raketen der Hamas ab. Leute schließen verängstigt die Augen und das Gespräch erstirbt erneut.

Ich schaue auf mein Handy. 

Olaf Scholz und die ganze Regierung bekundet Mitleid für alle israelischen Opfer der Hamas und stellt sich voll und ganz auf die Seite von Israel. Ebenso Joe Biden und die gesamte westliche Welt.

„Würde es denen eigentlich einen Zacken aus der Krone brechen, wenn sie auch Beileid für die gefallenen palästinensischen Opfer aussprechen würden? Ich meine, die können doch auch nichts dafür, dass sie ausgerechnet dort leben müssen, wo ne Terrororganisation ihr Unwesen treibt. „Wir sprechen Beileid für die gefallenen Zivilisten auf beiden Seiten aus. Unser Gedanken sind bei allen friedlebenden Menschen aus Israel und Palästina.“ Punkt. So einfach“, schimpfe ich. 

Meine Gedanken schweifen ab. In Ramallah, der palästinensischen Hauptstadt des Westjordanlands hatte ich auf meinen Touren kurz zwei junge Männer kennengelernt. Ich lief mit meiner Kamera an ihnen vorbei und sie begrüßten mich herzlich, hießen mich willkommen in ihrer Stadt. Sie fragten mich, ob ich von ihnen Fotos machen könnte. Ich bejahte und schoss zwei Fotos von ihnen. Sie gaben mir ihre Instagram-Accounts, damit ich die Fotos an sie weiterleiten konnte und wünschten mir noch eine gute Weiterreise. „Stay save, brother“, riefen sie mir nach, als ich mich verabschiedete und von dannen zog. Diese beiden hätte ich genauso gut in Tel Aviv, Mumbai oder Berlin treffen können.

„Was ist mit genau diesen Menschen? Warum hat man für sie auf westlicher Seite kein Mitgefühl?“, frage ich in meine Bunkergemeinschaft. 

„So funktioniert eben die Politik von heute. Kein Raum für Komplexität. Deutschland überlegt gerade sämtliche Hilfsgelder für Palästina zu streichen,“ seufzt Luise.

„Auf der anderen Seite haben manche Menschen in Berlin auf der Sonnenallee Süßigkeiten verteilt, weil sie sich drüber freuen, dass die Hamas Israelis angegriffen hat“, kommentiert Valentin. 

„Fuck“, murmele ich. 

Als der Alarm verstummt kehren wir alle zurück in die Lobby und lassen uns auf unsere alten Plätze fallen. Der Abend bricht an. Langsam verschwinden immer mehr Menschen auf ihre Zimmer. Doch wir bleiben an Ort und Stelle, vertreiben uns Stunde um Stunde. Einige israelische Gäste setzen sich um ein Klavier und beginnen leise auf Hebräisch zu singen. Ein paar Leute jonglieren direkt daneben mit kleinen bunten Bällen. Alles erscheint so normal und dennoch so weit weg von der üblichen Welt. Lara sucht immer noch nach Flügen, Christian aktualisiert weiterhin den Live-Ticker, und ich… ich fühle mich auf seltsame Weise von dieser Gemeinschaft um mich herum berührt. Heute Morgen waren wir noch Fremde, aber jetzt teilen wir eine gemeinsame Erfahrung, die uns irgendwie miteinander verbindet. Jetzt kann ich diese politische Floskel verstehen, dass Menschen in Krisen enger zusammenwachsen. Und das bedeutet mir unglaublich viel. Während einige an diesem Tag nichts Positives finden können, romantisiere ich ihn. Wahrscheinlich ist es meine eigene unterbewusste Strategie, um mit Situationen wie dieser umzugehen.

Ich bin erschöpft, aber ich will auf keinen Fall gehen. Meine Augenlider werden schwer. Den anderen geht es ähnlich. Aber niemand möchte in sein Zimmer zurückkehren, denn wir fürchten, einen möglichen Alarm zu verpassen. Also beschließen wir, hier eine Art Lager aufzuschlagen. Wir holen Decken aus unseren Zimmern und bauen uns aus den Kissen, die in der Lobby herumliegen, eine improvisierte Schlafgelegenheit.

„Pyjamaparty, woop woop!“ ruft Christian aus. „Das hatte ich schon lange nicht mehr.“

Ich lege mich hin, dankbar für die Menschen um mich herum. Über mir dreht sich ein großer schwerer Ventilator. Sein monotones Surren beruhigt mich. Ab und zu zucke ich bei neuen Geräuschen zusammen, aber der Schlaf überwältigt mich schließlich. Ich versinke in eine traumlose Nacht.

Am nächsten Morgen heißt es Lebewohl zu sagen.

Estefani, Lara, Valentin und ich teilen uns ein Taxi zum Flughafen. Am Ausgang des Hostels verabschiede ich mich von all den anderen, die noch hier bleiben werden. Wir umarmen uns lange. 

„Vielleicht komme ich irgendwann mal nach Berlin“, meint Delphina. 

„Und ich nach Argentinien“, gebe ich zurück.

Typische Hostel-Verabschiedung. 

Das Taxi kommt, wir steigen ein, der Fahrer summt gelassen und versichert, dass Tel-Aviv sicher ist. Die Gebiete um den Gaza-Streifen; dort sei die Lage dramatisch. 

„Hmm, die haben dort ja auch keinen Iron-Dome“, murmele ich in mich hinein. Ich bin dankbar und untröstlich zur selben Zeit. 

Am Flughafen steigen wir aus, an meinem Gate lasse ich die anderen drei hinter mir und fühle mich seltsam nackt ohne sie. Es gibt keine Komplikationen. Ich durchlaufe die Security-Kontrollen und wenig später hebt mein Flugzeug vom Boden ab. 

Als ich nach mehreren Stunden in Berlin lande, ist es draußen dunkel und kalt. Ich fröstele und muss niesen. Hoffentlich ist das nicht der Beginn eines Schnupfens. First World Problem und so. 

Ich bin einmal wieder aus einem ewig währenden Sommer in den Herbst geflogen. 

Es fühlt sich seltsam an, nun wieder in einer im Vergleich heilen Welt zu sein, während nur vier Stunden Flugzeit entfernt, Menschen im Chaos versinken.  

Meine Reise in den Nahen Osten ist vorbei, während dort der Krieg erst so richtig beginnt. 

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